Delitzscher Internierte in sowjetischen Speziallagern - Das Schicksal eines Delitzschers im Speziallager
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- Geschrieben von Lars-Uwe Freiberg
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3. Das Schicksal eines Delitzschers im Speziallager
Anfang Juli 1945 kam eine Gruppe russischer Offiziere nach Delitzsch und begann mit der Einrichtung der sowjetischen Kommandantur. Dafür wurden zunächst die Gebäude in der Eilenburger Straße 65 (später Sitz des Kreisgerichtes und des Vermessungsamtes) sowie das Behördenhaus in der Dübener Straße 20 (später das Volkspolizei-Kreisamt) genutzt. In diese Gebäude wurden in der darauffolgenden Verhaftungswelle die Personen bis zur Überführung in zentrale Lager eingesperrt. Die Abbildungen 1, 2 und 4 zeigen drei der Gebäude, in denen die sowjetische Militärkommandantur in Delitzsch untergebracht war.
Die sowjetische Militärkommandantur in Delitzsch: Unter Leitung des Hauptmanns und späteren Majors Dubner trafen am 4. Juli 1945 fünf sowjetische Offiziere in Delitzsch ein. Ihre Aufgabe war es, die sowjetische Militärkommandantur im Behördenhaus in der Dübener Straße 20 (später das VP-Kreisamt und heute Gymnasium) einzurichten. Die sich dort befindenden Ämter des Landratsamtes wurden an andere Orte verlegt. Während dieser Zeit diente das Gebäude Eilenburger Straße 65 (später das Kreisgericht) als Kommandantur. Am 15. August 1945 zog die Kommandantur in die Dübener Straße 20 und in die Villen Am Wallgraben 5-6. Als erster Militärkommandant nahm Oberstleutnant Werchinin in der Dübener Straße Quartier, 1946 folgt ihm Major Orlow bis zur Auflösung der sowjetischen Militärkommandantur im Dezember 1949. Als Politstellvertreter war für diese vier Jahre Major Dubner eingesetzt. Das Gebäude Eilenburger Straße 65 wurde weiterhin von den Dienststellen der Kommandantur genutzt. Während die Offiziere im Hotel „Zur Linde“ und in Privatquartieren untergebracht waren, wurden die Soldaten in die Räume des Behördenhauses einquartiert. NKWD-Dienststellen und Gefängnisse wurden in der Folgezeit auch in einem Wohnhaus Ecke Schäfergraben/ Angerstraße und in der Elberitzstraße 6, dem Wohnhaus der Gärtnerei Geißler, eingerichtet. Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wird die SMAD im November 1949 aufgelöst und durch die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) ersetzt. Nach Stalins Tod im Jahre 1953 und während der Ereignisse des 17. Juni 1953 werden wie in der gesamten DDR auch in Delitzsch erneut sowjetische Militärkommandanturen eingerichtet. |
Ein ehemaliger Inhaftierter berichtete später über die Haftzelle in der Eilenburger Straße 69: "Im Haus des Schweinehändlers Karl Nickel in der Eilenburger Straße hatte die GPU ihren Sitz. ...Dort lieferte uns der deutsche Polizist ... bei dem russischen Wachtposten des GPU-Kellers ab. ... In Nickels Haus wurden wir in den Keller gebracht. Dort befand sich schon eine Anzahl Häftlinge, darunter verschiedene Bekannte. Die Fenster waren zugemauert, so dass überhaupt kein Tageslicht hineingelangte. Tag und Nacht brannte eine schwache Glühbirne. Wir saßen oder lagen den langen Tag auf unseren Mänteln, insofern wir einen hatten." Im ehemaligen Behördenhaus in der Dübener Straße 20 (später Sitz des VP-Kreisamtes sowie einer Oberschule) besaß die Zelle ein vergittertes Fenster, das etwas Tageslicht hinein ließ. Der Raum hatte eine Breite von etwa zwei Meter fünfzig und war etwa fünf Meter lang. Hier waren ständig bis zu 18 Personen untergebracht. Das heißt, pro Person standen Tag und Nacht lediglich 0,7 m² zur Verfügung. Das schlimmste in dieser engen Zelle war jedoch ein Abortkübel, der direkt neben der Tür stand. Einmal am Tag wurden die Inhaftierten auf den Flur gelassen, um ihr "großes Geschäft" auf einer Toilette zu erledigen. Da das Abortfenster an der Straßenseite angebracht und immer einen Spalt breit geöffnet war, konnte man im Vorbeigehen etwas durch die Gitterstäbe hineinwerfen. Dadurch gelang es einigen Inhaftierten, Briefe nach außen zu schmuggeln oder von Freunden und Verwandten kleinere Lebensmittelpakete zu erhalten.
Abb. 1: ehemaliges Behördenhaus in der Dübener Straße 20
(später VP-Kreisamt und heute Gymnasium)
Abb. 2: Gebäude in der Eilenburger Straße 65
(später Sitz des Kreisgerichtes und des Vermessungsamtes)
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Das Schicksal eines der Internierten aus Delitzsch ist uns ausführlicher bekannt. Diese persönlichen Erlebnisse sollen stellvertretend für eine ganze Reihe ähnlicher Schicksale wiedergegeben werden. Ergänzt werden diese Daten jeweils durch wichtige Erläuterungen, die für das Gesamtverständnis erforderlich sind. Der Name dieses ehemaligen Internierten wurde aus Datenschutzgründen geändert.
Bis zur Einberufung zur Wehrmacht im Jahr 1940 übte M. neben seiner buchhalterischen Tätigkeit im RAW Delitzsch die Funktion des ehrenamtlichen Bürgermeisters in einer Gemeinde des Landkreises Delitzsch aus. Bei Beendigung des Krieges geriet er in amerikanische Gefangenschaft. Er wurde etwa acht Wochen in einem Gefangenenlager bei Kassel festgehalten. Da ihm die Amerikaner keine Kriegsverbrechen oder ähnliche Vergehen nachweisen konnten, wurde er entlassen und kehrte nach Hause zu seiner Familie zurück. Für ihn war der Krieg vorbei und sicher träumte er wie Millionen anderer Deutscher von einer friedlichen Zukunft mit seiner durch den Krieg unversehrten Familie. Er konnte nicht ahnen, dass ihm gerade diese Rückkehr zum Verhängnis werden sollte! Sein Zuhause befand sich auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ).
Als M. im August 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, fand er bereits einen vom 7. Juli 1945 datierten Brief vor. Darin war er durch den Werkdirektor des RAW Delitzsch, Dünhaupt, seines Dienstes enthoben worden. Als Grund wurde angegeben, dass er „als Oberscharführer der SA der NSDAP tätig gewesen“ sei. Diese Praxis entsprach zunächst der Übereinkunft der Siegermächte in Jalta vom Februar 1945, Funktionäre der NSDAP aus führenden Positionen zu entfernen. Trotzdem muss dieser Brief auf M. wie ein Schock gewirkt haben. Auch ihm musste bereits zu Ohren gekommen sein, dass täglich Verhaftungen durch die russischen Besatzungstruppen erfolgten und niemand richtig wusste, welches Schicksal den Inhaftierten zugedacht war. Jeden Tag nagte die Ungewissheit an ihm; immer wieder stellte er sich die Frage: Werde ich auch verhaftet…? Zu diesem Zeitpunkt waren bereits sein Bruder und einer seiner Freunde durch den NKWD inhaftiert worden. Vielleicht hätte er zu diesem Zeitpunkt auch in die westlichen Besatzungszonen flüchten können. Aber er hatte keine Taten begangen, die eine Verhaftung gerechtfertigt hätten und außerdem hätte er seine ganze Familie hier lassen müssen.
Abb. 3: Kündigungsschreiben des RAW Delitzsch vom 7. Juli 1945
Nach der Entlassung aus dem RAW Delitzsch fand M. eine Anstellung als Hilfsarbeiter in der Zuckerfabrik Delitzsch und für ca. zwei Monate verlief sein Leben scheinbar ruhig. Aber diese Ruhe war trügerisch. Er wurde plötzlich am 6. November 1945 durch Angehörige einer operativen Gruppe des NKWD und deutsche Volkspolizisten verhaftet und zur Kommandantur in die Dübener Straße 20 gebracht. Dabei wurde wie üblich kein Haftgrund angegeben und auch keine Untersuchung eingeleitet. Aus seinen Briefen, die er aus den Gefängniszellen schmuggeln konnte geht hervor, dass er eine Denunziation vermutete. Erst wesentlich später konnte diese Vermutung bestätigt werden. Bei den Denunzianten handelte es sich um gute Bekannte aus der unmittelbaren Nachbarschaft.
Diese Denunzianten wollten damit ihre eigene Haut retten und nutzten den Umstand, dass durch die russischen Besatzer sowieso keine Überprüfung solcher Behauptungen erfolgen würde. Man könnte ihnen lediglich zugute halten, dass ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, de facto ein Todesurteil gefällt zu haben. Es ist aber davon auszugehen, dass M. seine Mitgliedschaft in der NSDAP und seine Funktion als Zellenleiter sowie sein Rang eines Oberscharführers in der SA ebenfalls Anlass seiner Internierung waren.
Die örtliche Verwaltung in Delitzsch musste für die sowjetische Kommandantur eine Liste mit den wichtigsten Daten aller NSDAP-Mitglieder erstellen, die zu diesem Zeitpunkt ihren Wohnsitz in Delitzsch hatten. Als Grundlage dafür konnten die in der Burg Wettin gefundenen Mitgliederlisten der NSDAP für den Gau Halle-Merseburg dienen. Diese Listen wurden bis Ende 1948 ständig ergänzt und mit den Namen der aus der Gefangenschaft entlassenen Mitglieder aktualisiert. Sie enthielten jedoch keine Angaben darüber, welche Rolle die einzelnen Mitglieder innerhalb des faschistischen Machtgefüges spielten oder ob sie an Verbrechen beteiligt waren. Diese Liste umfasste für die Stadt Delitzsch 2.300 NSDAP-Mitglieder, bei einer Einwohnerzahl von ca. 17.000 im Jahre 1945.
Waren in den ersten Monaten nach dem Krieg in den Speziallagern noch Volksdeutsche, Soldaten, SS-Angehörige, Parteifunktionäre, Werwolfverdächtigte, „Kapitalisten“, Staatsfunktionäre und Polizisten durcheinander gewürfelt, so hatte der im September 1945 erlassene Befehl mit einem Katalog über die in Speziallager und andere Lager Einzuweisenden das Ergebnis, dass die für Kriegsgefangenenlager und besondere Untersuchungslager vorgesehenen Häftlingskategorien nicht mehr in die Speziallager kamen und nach und nach von diesen Haftgruppen entlastet wurden: ehemalige Soldaten und SS-Leute kamen z. B. in Kriegsgefangenenlager (in der Sowjetunion) und ein relativ kleiner Teil von Häftlingen (vor allem Volksdeutsche), denen man die Zusammenarbeit mit dem Feind vorwerfen wollte, wurde ebenfalls in Lager der Sowjetunion gebracht. Insofern blieben in den Speziallagern auf deutschem Boden die „kleinen Leute“, auch wenn sich in diesem oder jenem Fall nicht klar erkennen ließ, warum ein ehemaliger Soldat ohne Parteifunktionen oder ein ehemaliger Richter, der nach dem genannten Befehl hätte in ein Lager in der Sowjetunion gebracht werden müssen, in einem Speziallager in Deutschland blieben. Bei den Fahndungen und Verhaftungen spielte die am 1. Juni 1945 gegründete Deutsche Volkspolizei eine Helferrolle. Allerdings hatte sie kein Recht, die Rechtmäßigkeit von angeordneten Verhaftungen oder die Glaubwürdigkeit von Denunziationen zu überprüfen.
Abb. 4: Grundstück Am Wallgraben 6
(um 1946, später Kreisdienststelle des MfS)
Die weiteren Daten zu M. sind zum Teil ungenau und können lediglich auf der Grundlage vorhandener Dokumente und persönlicher Aufzeichnungen rekonstruiert werden. Unter anderem liegen zwei datierte Originalbriefe vor, die M. aus der Gefängniszelle in der Dübener Straße schmuggeln konnte. Darin drückt er noch seine Hoffnung aus, dass das alles bald vorbei sein werde.
In dem Brief vom 4.12.1945 schrieb M.: „Heute sind es nun 4 Wochen und ich sitze immer noch hier.“ Diese Angabe steht im Widerspruch zu einer russischen Karteikarte aus dem Archiv des MGB, auf der als Tag der Verhaftung der 23.11.1945 angegeben ist. Es ist anzunehmen, dass an diesem Tag seine Überstellung nach Torgau zwar verfügt wurde, tatsächlich aber erst 4 bis 5 Wochen später erfolgte. Der genaue Tag der Überführung nach Torgau ist nicht mehr festzustellen. Mitteilungen an Angehörige über das Schicksal der Internierten waren bei Strafe verboten, jeglicher Kontakt nach außen war untersagt. Trotzdem versuchten viele Häftlinge wie in diesem Fall immer wieder, eine Nachricht für ihre Angehörigen aus den Gefängniszellen oder den Lagern zu schmuggeln.
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An der Verhaftung von M. war auch der damalige Hauptmann und spätere Major Dubner beteiligt:
Abb. 7: Iona Grigorewitsch Dubner
Hauptmann und später Major Iona Grigorewitsch Dubner: Er kam am 4. Juli 1945 an der Spitze von fünf sowjetischen Offizieren nach Delitzsch und war vier Jahre lang der Leiter der Politabteilung der sowjetischen Kommandantur des Kreises Delitzsch. Unter seiner Leitung wurde in Delitzsch im Behördenhaus in der Dübener Straße 20 (später VP-Kreisamt und heute zum Gymnasium gehörig) die Einrichtung der sowjetischen Kommandantur vorbereitet. Er war maßgeblich an der Vorbereitung und Durchführung der Internierung für die als aktive Nazis verdächtigten Personen beteiligt.
Abb. 8: Dubner wird am 09.05.1975 in das Ehrenbuch des Kreises Delitzsch eingetragen |
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Aus Anlass der Feier zum „20. Jahrestag der Befreiung“ am 8. Mai 1965 weilte Dubner auf Einladung 14 Tage in Delitzsch. Auch zum „30. Jahrestag der Befreiung“ am 8. Mai 1975 wurde er eingeladen und weihte den neu gestalteten Ehrenhain für die gefallenen sowjetischen Soldaten auf dem Friedhof Delitzsch ein. Am 09.05.1975 wurde er für sein Wirken durch den Vorsitzenden des Rates des Kreises Delitzsch, Karl Hübner (rechts in Abb. 8), ausgezeichnet und in das Ehrenbuch des Kreises Delitzsch eingetragen. Anwesend war dabei unter anderem der damalige 1. Sekretär der Kreisleitung der SED, Richard Tänzer (links in Abb. 8). In der Eintragung findet sich natürlich kein Hinweis auf unter seiner Leitung durchgeführte zahllose und willkürliche Verhaftungen: |
Abb. 9: Eine der noch heute erhaltenen Zellentüren im Delitzscher Rathaus
In der Gefängniszelle in der Dübener Straße 20 war M. ca. fünf Wochen (also bis etwa 10.12.1945) eingesperrt und wurde dann für mehrere Tage in das Gerichtsgefängnis in Delitzsch (die Gefängniszellen im Rathaus sind heute noch erhalten) verlegt. An einem kalten Wintertag zwischen dem 12. und 28. Dezember 1945 fuhr ohne Ankündigung ein LKW auf den Hof des Delitzscher Rathauses. Kurze Zeit später wurden die Häftlinge aus dem Keller getrieben und ohne ein Wort auf den LKW verfrachtet. Die Häftlinge versuchten jedes Geräusch und alle Vorgänge zu analysieren. So konnten sie schnell feststellen, dass der LKW die Stadt in östlicher Richtung verließ. Der eine oder andere fragte sich: „Kommen wir jetzt nach Sibirien…?“ Sie atmeten auf, als die Fahrt nach etwa zwei Stunden endete. Auf der Ladefläche hockend konnten sie durch Schlitze in der Plane erkennen, dass sie in Torgau angekommen waren, in die Festung mit der Zitadelle: Fort Zinna. Das war das berüchtigte Speziallager Nr. 8 in Torgau. Die Erleichterung hielt aber nur kurz an. Die Zellen des Forts waren für höchstens 1.000 Personen bestimmt. Tatsächlich befanden sich aber 7.600 Inhaftierte dort. 7.600 Häftlinge ohne ausreichende Ernährung, ohne medizinische Versorgung, ohne jede Tätigkeit, ohne Hoffnung. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war auch dem Letzten klar, dass eine schnelle Entlassung und Heimkehr in weiter Ferne lag.
Das Lager Fort Zinna bestand aus einem mehrstöckigen steinernen Hauptgebäude und einer Anzahl Holzbaracken. Neuankömmlinge wurden zunächst in die Quarantänebaracke gebracht, bevor sie verlegt wurden. Tagsüber konnten sich die Inhaftierten im Lager frei bewegen. Früh und abends war Zählappell. Nach dem Abendappell durfte bis zum Frühappell niemand mehr seine Baracke verlassen. Diese Baracken bestanden aus mehreren großen Räumen mit 50 bis 60 Insassen. Das Steinhaus hatte Doppelzellen, die aber jeweils mit vier Mann belegt waren. Die schlimmste Art der Unterbringung war in der Halle des Steingebäudes. Diese war von Häftlingen so überfüllt, dass nicht einmal genug Platz zum Liegen für alle vorhanden war. Auch das Schlafen war ein Problem. Die dreistöckigen großen Holzregale standen an den Wänden. Die Häftlinge lagen so dicht nebeneinander unter meist dünnen Mänteln, dass alle auf derselben Seite liegen mussten. Wollte sich einer auf die andere Seite drehen, mussten das 10 bis 12 Mann gleichzeitig tun. In diesen Sachen und auf der harten Unterlage war der Schlaf natürlich keine Erholung. Im Laufe der Zeit bildete sich deshalb auch bei den meisten Inhaftierten an Hüften und Ellenbogen eine dicke Hornhautschicht. Dazu kamen Qualen durch die vielen Wanzen, vor denen man sich kaum schützen konnte. Die Toten wurden außerhalb des Lagers auf einem Acker verscharrt. Das Gelände wurde vollkommen eingeebnet und später darüber hinweggepflügt. Die Beerdigungskommandos wurden, bevor sie ins Lager zurückkamen, gründlich "gefilzt". Hatten sie Skizzen über die Begräbnisstellen angefertigt, bekamen sie mindestens fünf Tage Karzer. Das hieß, dass diejenigen dann nur jeden dritten Tag einen Napf Graupensuppe bekamen.
Abb. 10: Luftbildaufnahme des Lagers Fort Zinna mit dem Kreuzbau
(Quelle: 2014 Google, 2009 GeoBasis DE/BKG, Aufnahmedatum: 30.09.2013)
Ende März 1946 wurde das Lager in die sich auf der anderen Straßenseite befindende Seydlitz-Kaserne verlegt. In die Zellen des Forts Zinna kamen ab Mai 1946 neue Häftlinge: Diese waren im Unterschied zu den anderen bereits verurteilt – durch ein Sowjetisches Militärtribunal (SMT). Ohne Unterschied waren hier deutsche Zivilisten neben ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen verurteilten Ausländern eingesperrt. Das Lager im Fort Zinna erhielt nun die Bezeichnung Speziallager Nr. 10. Im Oktober 1948 wurde dieses Lager aufgelöst. Das Schicksal dieser Häftlinge war noch ungewisser: Wer von ihnen nicht schon in Torgau verhungerte oder an Krankheiten starb, wurde später in die Zuchthäuser Waldheim, Bautzen oder Hoheneck zur Verbüßung hoher Haftstrafen verlegt, kam in ein sibirisches Besserungslager oder wurde wie insgesamt 923 zum Tode verurteilte deutsche Zivilisten in das Moskauer Gefängnis „Butyrka“ verschleppt und dort hingerichtet.
Die Gebäude der Seydlitzkaserne hatte man extra für die Gefangenen hergerichtet. In eine Stube kamen acht Mann, wo vorher lediglich zwei Soldaten untergebracht waren. In der Kaserne befand sich eine Sonderbaracke, gewissermaßen ein Lager im Lager. Dort waren Häftlinge eingesperrt, die den sowjetischen Bewachern besonders verdächtig waren und mit anderen nicht zusammenkommen durften. Von ihnen wurden die meisten nach Russland verschleppt.
Von diesen Vorgängen war den Angehörigen aber nichts bekannt. Meistens haben sie noch nicht einmal erfahren, dass die Inhaftierten überhaupt im Torgauer Speziallager waren. So wie die Eltern und die Ehefrau von M. hatten sie angenommen, diese wären direkt von Delitzsch in das Lager Buchenwald gebracht wurden.
Speziallager Nr. 8 in Torgau: Dieses Lager ging aus dem Lagerkomplex Frankfurt/Oder hervor. Der NKWD richtete es im August 1945 ein. Die Unterkünfte des Speziallagers Nr. 8 in Fort Zinna waren stark überbelegt. Die Häftlinge waren im Zellenbau, eilig errichteten Baracken und Kasematten der Festung notdürftig untergebracht. Die Mehrzahl der im Speziallager Nr. 8 ohne Urteil gefangen Gehaltenen gehörte der NSDAP oder anderen NS-Organisationen an, außerdem befanden sich mehrere hundert Kriegsgefangene unter den Internierten. Die Hauptaufgabe der Speziallager bestand laut der »Vorläufigen Lagerordnung« vom 27. Juli 1945 in der »vollständigen Isolierung« der Internierten. Das bedeutete: keine Nachrichten an die Angehörigen, auch nicht im Falle des Todes, strenge Sicherheitsmaßnahmen, so gut wie keine Arbeitskommandos außerhalb der Lager. Die Lebensmittelrationen und die medizinische Versorgung waren völlig unzureichend, so dass fast alle Todesfälle auf physische Auszehrung oder Tuberkulose zurückzuführen waren. Bis zum Ende des Jahres 1945 füllte sich das Lager mit über 7.000 Gefangenen. Im Mai 1946 wurde das Lager in die benachbarte Seydlitz-Kaserne verlegt. Im Dezember 1946 und Januar 1947 wurde das Speziallager Nr. 8 nach Verlegung der etwa 12.100 Gefangenen in die Speziallager Nr. 2 Buchenwald (9.900) und Nr. 1 Mühlberg/Elbe (2.200) aufgelöst. Über 600 Häftlinge waren in dem Lager verstorben. |
Abb. 11: Ein Gebäude der ehemaligen Seydlitzkaserne, später Speziallager Nr. 8
(diese Gebäude wurden inzwischen abgerissen)
Im Speziallager Nr. 8 blieb M. bis zum 28. Dezember 1946 und wurde dann mit anderen Internierten in das Speziallager Nr. 2 nach Buchenwald überführt (laut einer Transportliste, die im Lager Torgau erstellt wurde). Der Grund dafür war, dass Ende 1946 das Lager in Torgau aufgelöst wurde. Ein Teil der Internierten kam in das Speziallager Nr. 1 nach Mühlberg und ein Teil in das Speziallager Buchenwald.
Abb. 12: Luftbildaufnahme des ehemaligen Speziallagers Mühlberg
(Quelle: 2014 Google, 2009 GeoBasis DE/BKG Image, 2014 GeoBasis DE/BKG, Aufnahmedatum: 01.01.2008)
Speziallager Nr. 1 in Mühlberg: Von 1939 bis 1945 war das Lager in der Nähe von Mühlberg (Elbe) das Kriegsgefangenenlager STALAG IV B der deutschen Wehrmacht. Am 23. April 1945 wurde das Lager durch die Rote Armee befreit. Im September 1945 übernahm es der Staatssicherheitsdienst NKWD als Speziallager Nr. 1. Im Juni 1946 und im August 1946 wurden je 1.000 und im Februar 1947 900 arbeitsfähige Häftlinge in die UdSSR deportiert. Durch Transporte aus den aufgelösten Lagern Torgau, Ketschendorf und Jamlitz stieg die Belegungszahl auf durchschnittlich 12.000 Häftlinge. Bis zu seiner Auflösung im Dezember 1948 durchliefen etwa 22.000 Deutsche und Ausländer dieses Lager. Fast jeder Dritte starb hier; ungefähr 7.000 Tote ruhen namenlos in anonymen Massengräbern im weiten Umfeld der Gedenkstätte. Ihre Angehörigen erhielten keine Nachricht. Im Sommer 1948 wurden 7.300 Häftlinge entlassen. Die restlichen 5.000 Häftlinge wurden in das Speziallager Buchenwald verlegt. Wie in den anderen Speziallagern in der SBZ auch wurden alle inhaftierten Männer, Frauen und Jugendliche ohne Anklage und Verurteilung von der Außenwelt völlig isoliert. |
Abb. 13: Gedenkstein des Lagers Mühlberg | Abb. 14: Gräberfeld mit Hochkreuz |
Im Lagerjournal des Lagers Torgau ist bei M. als Haftgrund „karatel“ angegeben, das soviel wie Angehöriger der Straforgane bedeutet. In der Karteikarte des russischen Zentralarchivs des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR steht als Haftgrund: „Deutsche Straforgane: Mitarbeiter“. Der Haftgrund „Mitarbeiter der Straforgane“ ist nur dadurch zu erklären, dass M. nach russischem Verständnis als ehrenamtlicher Bürgermeister auch für die im Gasthof seiner Gemeinde untergebrachten ausländischen Zwangsarbeiter und deren Schicksal verantwortlich gemacht wurde. Im Lagerjournal des Speziallagers Buchenwald wurde M. dann sogar als „Chef eines Konz.-Lagers“ geführt. Von dieser Anschuldigung hat M. mit Sicherheit nie etwas erfahren. Es war nicht ungewöhnlich, dass Haftgründe erfunden oder „angepasst“ wurden. Die Schuldfrage zu überprüfen war der Mühe nicht wert.
Abb. 15: Karteikarte, die im sowjetischen Ministerium für Staatssicherheit
über M. angelegt wurde, darunter die deutsche Übersetzung
Zu den mit M. nach Torgau überführten Internierten gehörten unter anderem sein Bruder und Paul Scharf, amtierender Bürgermeister von Delitzsch bis April 1945. Gerade Paul Scharf hatte viel für seine Stadt getan. Im April 1945 konnte er mit anderen Antifaschisten die Kapitulation der Stadt vor den amerikanischen Truppen erwirken und somit viele Menschenleben retten. Aber das interessierte den NKWD wenig. Es genügte seine Funktion als Bürgermeister, um ihn einzusperren. Ein Schuldnachweis war nicht erforderlich. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass laut Strafgesetzbuch der RSFSR von 1926 ein Beschuldigter seine Unschuld nachweisen musste. Dass das gar nicht möglich war, wenn ein Beschuldigter interniert wurde, spielte dabei keine Rolle. Obwohl der „Antifa-Ausschuss“ der Stadt Delitzsch einschließlich seiner kommunistischen Mitglieder mit Hinweis auf dessen antifaschistische Haltung die Freilassung von Paul Scharf forderte, war es den zuständigen Stellen der SMAD nicht einmal eine Antwort wert. Erst am 3. Februar 1950 wurde Paul Scharf aus dem Lager Buchenwald entlassen; er blieb also bis zur Auflösung des Lagers inhaftiert.
Abb. 16: Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Antifaschistischen
Ortsausschusses Delitzsch an die SMAD
Die Haftbedingungen in Buchenwald waren ebenso katastrophal wie in Torgau und Mühlberg. Die Häftlinge durften nicht arbeiten oder ähnliche Tätigkeiten verrichten. Ihnen war es untersagt, zu anderen Häftlingen Kontakt aufzunehmen. Niemand wusste, wie es seinen Angehörigen ging. Die Isoliertheit war vollkommen. Diese endlos langen Tage wurden nur durch kurze Gänge an der frischen Luft unterbrochen. M. trieben die Gedanken an seine Familie fast in den Wahnsinn. Die Ungewissheit war die schlimmste Strafe, die man einem Menschen antun konnte: Die Hilflosigkeit, keinen Ausweg aus dieser Situation zu finden; die empfundene Ungerechtigkeit, sich noch nicht einmal verbal gegen Vorwürfe rechtfertigen zu können; die erzwungene Untätigkeit, die immer wieder zum Grübeln führte und die Hoffnung, die kein Ziel kannte. Selbst wenn man von einem Gericht verurteilt worden wäre – und sei es auch noch so ungerecht – hätte man irgendwo am Ende des Tunnels Licht sehen können und hätte ein Ziel gehabt, an das man sich klammern könnte. So aber konnten diese Maßnahmen nur einem Ziel dienen: die Internierten psychisch zu brechen.
Dazu kam das völlig unzureichende Essen. Wenn man die Angaben aller sowjetischen Speziallager zugrunde legt, starben etwa ein Viertel aller Internierten an Hunger oder an Krankheiten, die durch Hunger verursacht waren. Bei etwa 90% der in den Lagern Verstorbenen wurde als Todesursache entweder Enterokolitis, Dystrophie 3 oder Tuberkulose angegeben. Alles Krankheiten, die durch mangelnde Ernährung und Hygiene verursacht wurden. Gegen Ende des Jahres 1946 nahmen die sowieso schon knappen Lebensmittelrationen in Torgau von Tag zu Tag weiter ab, da man es nicht für notwendig hielt, das Lager kurz vor der Auflösung mit Lebensmitteln zu versorgen. So kamen die Häftlinge halb verhungert im Lager Buchenwald an.
Abb. 17: Lagerbaracke im ehemaligen Speziallager Buchenwald
Noch eine Besonderheit im sowjetischen Speziallagersystem gilt es hervorzuheben. Es war für die Lagerinsassen nur sehr schwer, bestimmte Dinge, Verhaltensweisen und Anordnungen des NKWD zu verstehen. Während es für die meisten Internierten durchaus verständlich gewesen wäre, wenn man nach der Kapitulation nach den wirklichen Tätern des Dritten Reiches gesucht und diese eingesperrt hätte, so musste es doch wie ein Hohn wirken, wenn in vielen Fällen tatsächliche Kriegsverbrecher als Saalälteste, Kalfaktoren usw. eingesetzt wurden. Um Personal zu sparen setzten die Russen oftmals eine deutsche Lagerleitung mit faschistischer oder krimineller Vergangenheit ein. Während eine große Zahl Unschuldiger leiden musste, genossen gerade solche Verbrecher die größte Sympathie des sowjetischen Lagerpersonals. Lagerleitung und Häftlinge wurden gegeneinander ausgespielt, z.B. durch Denunzierungen unter Kameraden, die oft zu verschärftem Arrest führte. In Mühlberg gehörten dieser Lagerleitung auch zwei Delitzscher an: Robert Lampe und Erich Thomas. Letzterer konnte aber nur begrenzt davon profitieren. Trotz seiner Brutalität und Härte gegen seine eigenen Kameraden blieben ihm die Speziallager Torgau, Mühlberg und Buchenwald nicht erspart. Nach 1950 kam er ins Zuchthaus Waldheim, wo sich seine Spur verliert.
M. starb laut Auszug aus den Totenlisten des NKWD/MWD-Speziallagers Buchenwald am 13. Februar 1947 an Enterokolitis. Zusammen mit anderen Toten wurde er in der Umgebung des Lagers verscharrt. Beerdigungsakten durften nicht angefertigt werden, weshalb die genauen Begräbnisstätten der Lagertoten nicht bestimmbar sind. Eine Benachrichtigung der Angehörigen erfolgte nicht, auch nicht Jahrzehnte später.
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Abb. 18: Todesbescheinigung des Exekutivkomitees der Allianz der Gesellschaften vom
Roten Kreuz und Roten Halbmond der UdSSR vom 29.03.1977
Bis 1977 erhielten die Angehörigen M.'s offiziell keine Kenntnis von seinem Schicksal. Seine Ehefrau hatte beim Internationalen Suchdienst Augsburg einen Nachforschungsantrag eingereicht. Am 15.12.1977 erhielt sie aus Moskau die Todesurkunde. Aber selbst auf dieser Urkunde war der Sterbeort nicht angegeben. Noch bis Mitte der 50er Jahre begab sich seine Frau zum Bahnhof, wenn ein Zug entlassener Gefangener angekündigt wurde. Selbst danach hoffte sie noch jahrelang auf die Rückkehr ihres Mannes. Erst 1999 gelang es, den Leidensweg von M. nachzuvollziehen – ein Zeitpunkt, den seine Frau nicht mehr erleben konnte. Zu DDR-Zeiten konnte man es sich nicht leisten, über dieses Thema öffentlich zu reden. Internierte, die dieser Hölle nach Jahren entrinnen konnten, trauten sich aus Angst vor weiteren Repressalien nicht, über ihr Schicksal zu reden. So blieb der gesamte Vorgang unter der Bevölkerung weitgehend unbekannt und kaum jemand ahnte die Ausmaße des sowjetischen Lagersystems. Angehörige von Internierten waren Schikanen ausgesetzt. War das Fehlen einer Todesnachricht schon allein eine psychische Belastung, so kam noch hinzu, dass Angehörige nur dann jemanden für tot erklären lassen konnten, wenn eine eidesstattliche Erklärung von Mithäftlingen vorlag. Aus verständlicher Angst waren diese aber nicht immer dazu bereit. Außerdem war es den Standesbeamten anfangs verboten, für verstorbene Internierte Sterbeurkunden auszustellen.
Abb. 19: Auszug aus der Totenliste des Speziallagers Buchenwald
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Abb. 20: Stahlstelen auf den Gräbern der Opfer des Speziallagers Buchenwald
Einige Zahlen sollen den Umfang der Speziallager in der SBZ verdeutlichen. Unter Berufung auf das Besatzungsrecht nahm das NKWD in der SBZ bis Oktober 1945 82.000 deutsche Zivilpersonen fest.Erst nach dem Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) Nr. 35 vom 26. Februar 1948 wurden schätzungsweise 45.000 Menschen entlassen, so dass sich Ende 1949 in den verbliebenen Lagern Bautzen (Speziallager Nr. 3), Buchenwald (Speziallager Nr. 2) und Sachsenhausen (Speziallager Nr. 1) noch etwa 30.000 Zivilisten befanden. Nach damaliger sowjetischer Lesart handelte es sich um leitende Mitarbeiter des NS-Systems.
Abb. 21: Totenbuch in der Gedenkstätte des Speziallagers Buchenwald mit Blick zum Gräberfeld